Kleshas – Die Störfaktoren des Geistes

Quelltext/Buch: Yoga - das große Prakisbuch für Einsteiger & Fortgeschrittene von Inge Schöps

Patanjali*) nennt eine Vielzahl von Hindernissen, die den Geist immer wieder aus der Ruhe bringen und damit zu Leid führen; diese fasst er in den fünf Hauptverursachern, den Kleshas, zusammen. Dabei handelt es sich um grundlegende, tiefsitzende Kräfte - allesamt menschliche Tendenzen, die sich wie ein Schleier über die Wahrnehmung legen und das gesamte Denken und Handeln beeinflussen. Diese Widerstände im Geist verhindern klares Sehen und damit den Weg in die Freiheit.
Diese sind: Avidya, Asmita, Raga, Dvesha und Abhinivesha.
*) Patanjali war ein indischer Weiser, der schätzungsweise zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 4. Jh. n. Chr. gelebt hatte. Er verfasste das Yogasutra und gilt deswegen als Vater des Yoga

Die 5 Kleshas auf einem Blick:

  1. Avidya => falsches Wissen
  2. Asmita => übertriebener Egoismus
  3. Raga => übertriebene Anhaftung
  4. Dvesha => übertriebene Abneigung
  5. Abhinivesha => diffuse Angst (Todesangst)

 

1. Avidya: Die subjektive Wahrnehmung

Avidya, Nicht-Wissen oder falsches Wissen, ist sozusagen die Mutter allen Leids. Denn alles Wissen, mit dem die Welt wahrgenommen wird, ist niemals objektiv, sondern immer subjektiv. Die menschliche Wahrnehmung ist geprägt von zuvor erworbenem Wissen: von Erfahrungen, die im Verlauf des Lebens gemacht wurden, von Wünschen und Träumen, von bestimmten Vorstellungen und Erwartungshaltungen – den eigenen und denen der anderen. Dieses subjektive Wissen wird oftmals für objektiv und wahr gehalten und dazu genutzt, die Welt zu beurteilen. Diese grundlegende Täuschung bildet nach Patanjali den Nährboden für vier weitere Kleshas.

2. Asmita: Das Ego – der Nabel der Welt

Asmita bezeichnet sowohl die falsche Einschätzung der eigenen Person als auch einen übertriebenen Egoismus. Das eigene Selbstbild hat vielfach nur bedingt etwas mit dem wahren Selbst zu tun, sondern ist von Kindesbeinen an geprägt durch Wahrnehmungen und Meinungen anderer. Diese Aussagen fräsen sich gleichsam in den eigenen Geist ein, bis man glaubt, tatsächlich so zu sein, wie die anderen sagen. Daraus resultieren Minderwertigkeitsgefühle ebenso wie ein überhöhtes Selbstwertgefühl. Beides führt nach Patanjali zu einer übersteigerten Ich-Bezogenheit: Die Gedanken kreisen ständig um einen selbst, und man betrachtet sich als den Nabel der Welt.

3. Raga: Unbedingt immer- wieder haben Wollen

Raga drückt den Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung aus und dem Festhalten an Vorlieben – was sich auch in einer regelrechten Gier oder in Süchten ausdrücken kann. Dahinter verbergen sich gute Erfahrungen, die man zumindest einmal gemacht hat und daraufhin immer wieder erleben möchte. Das Glücksverlangen allein steuert das Handeln.

4. Dvesha: Auf gar keinen Fall (wieder) haben Wollen

Damit wird das Gegenteil von Raga bezeichnet, nämlich eine übertriebene Ablehnung von Dingen, die auf schlechten Erfahrungen oder Vorurteilen basiert. Anstatt einer Situation oder einem Menschen offen gegenüberzustehen, bestimmt Dvesha, in diesem Fall Schubladendenken und negative Gedanken, das handeln.

5. Abhinivesha => Due Angst vor dem Unbekannten

Hinter Abhinivesha verbirgt sich eine diffuse Angst, die nicht unbedingt auf einer Erfahrung, sondern auf der Annahme basiert, dass etwas schief gehen könnte. Im Grunde steckt dahinter Todesangst – die Angst vor der vollkommenen Ungewissheit, denn niemand weiß mit Bestimmtheit, was nach dem Tod geschieht. Aber da alles stetigem Wandel unterliegt und es im Leben keine letztgültigen Gewissheiten gibt, finden sich auch im Alltag genügend Anlässe, sich vor der Angst beherrschen zu lassen.

Zwar hat die Angst durchaus ihre Berechtigung und bisweilen eine regelrechte Schutzfunktion; kann der Geist aber nicht zwischen einer berechtigten und einer diffusen Angst vor Unbekanntem unterscheiden, wirkt sich dies als Lähmung auf ihn aus. So gerät er außerstande, mit Klarheit wahrzunehmen, zu entscheiden und zu handeln. Nach Patanjali ist die Angst das Klesha, das am stärksten wirkt und am schwierigsten überwunden wird.

Wachsamkeit und Innehalten

Die Kleshas sind nicht immer gleich aktiv. Mal wirken sie im Verborgenen oder werden kaum wahrgenommen, mal sind sie stark ausgeprägt und beherrschen offensichtlich das Handeln. Mit Wachsamkeit lässt sich jedoch den eigenen Kleshas auf die Spur kommen. Dabei gilt es innezuhalten, das automatische Reiz-Reaktions-Schema anzuhalten, zu durchbrechen und dann bewusst zu entscheiden, wie man reagieren möchte. Zwar lassen sich, Patanjali zufolge, die Kleshas niemals vollkommen überwinden, der achtgliedrige Pfad zeigt jedoch Methoden auf, wie man ihren Einfluss auf die Wahrnehmung und auf das eigene Handeln deutlich vermindern kann.